Jakob Kirchheim - Lines Fiction ★ Zeichnung & Animation ★

Jakob Kirchheim

Lines Fiction: Deine Linoldrucke verleihen den Filmen ihren Charakter, eine sehr kontrastreich konkrete Formensprache, und in Rutas simultáneas sieht man die Gewebestruktur der Drucke in der Animation. Hat dich diese Ästhetik dazu gebracht, nie direkt mit Hand- oder Computerzeichnung zu arbeiten?

Jakob Kirchheim: Ich arbeite zumeist mit Linoldrucken, aber nicht immer. 1991 erhielt ich mit meiner Partnerin Teresa Delgado Filmförderung um einen Aquarell-Trickfilm zu realisieren: Die Prinzessin der zweiten Hand, ein Märchen-Krimi mit 750 Aquarellen, Stimmen und Musik (35mm, 15min, 1992, Panorama der Berlinale 1992). Dem Film liegen Tuschezeichnungen zu Grunde, die in einem zweiten Arbeitsgang koloriert und beim Verfilmen ineinander geblendet wurden. Dieser Film erinnert am ehesten daran, was man sich landläufig unter Zeichentrickfilm mit einer Story vorstellt und beschreitet doch recht unterschiedliche Wege. Erfahrungen mit Handzeichnung und Malerei für den Film gibt es also. Zu erwähnen wäre auch ein Filmprojekt, das mich mehrere Jahre bis 1999 beschäftigt hat: White Africa (BetaSP, 25min, 1999), eine animierte Reise durch den afrikanischen Kontinent. Zeichnungen mit Tusche und Aquarell entstanden als Stoptrick direkt in der Super-8-Kamera, inklusive Effekten, die das Trocknen der Farbe im Zeitraffer produziert. In diese Zeit fallen meine ersten Erfahrungen mit nicht-linearem Digitalschnitt.

Jetzt mach ich einen Sprung zur Animation Rutas simultáneas (DV, 10min, 2010), die, abgesehen von den verwendeten Linolschnitten, die erste rein digitale Linolfilm-Produktion darstellt. Es kamen Scans von Drucken zum Einsatz, keine Kamera. Der Film ist durch eine Busfahrt von Madrid nach Valencia inspiriert, während der ich automatische Zeichnungen der Landschaft, des Verkehrs und anderer Details anfertigte. Automatisch ist so zu verstehen, dass man nur hin und wieder aufs Papier schaut und versucht die Eindrücke so unmittelbar wie möglich festzuhalten, auch mit Verzeichnungen, perspektivischen Verschiebungen, Schriftanteilen, Kommentaren, Verkehrs- und Werbeschildern, Ortsnamen und Entfernungsangaben oder den Szenen, die sich auf dem Video-Monitor im Autobus abspielten (in diesem Fall Die Maske des Zorro mit Antonio Banderas).

Diese Zeichnungen wurden als Linolschnitt-Serie auf Nessel umgesetzt, was den anschließenden Scans die erwähnte Gewebestruktur verleiht, eine Art feines Raster. Diese an und für sich statischen Bilder wurden durch Keyframe-Animation in Bewegung versetzt, in Ebenen mit Transparenzen verschachtelt und teilweise mit 3D-Effekten aus ihrer ursprünglichen Form herausbewegt.

Der Begriff der Zeichnung verschiebt sich dabei zur Computerarbeit, allerdings auf Grundlage handgemachter Originalbilder. Zu meiner Verwendung von Weißlinien-Linoldrucken lässt sich sagen, dass dieses Hochdruckverfahren die, ansonsten gezeichneten, Striche als Schnitte ausspart und den Hintergrund zum Farbträger macht, vorausgesetzt, die druckenden Bildanteile überwiegen. Computerzeichnungen mit Stift probiere ich seit einiger Zeit aus, mit der Maus war mir das zu technisch, umständlich und ungenau. Will man diese Zeichnungen nicht nur auf Festplatte speichern, stellt sich erneut die Frage des Ausdrucks. Für die Zwecke einer digitalen Videoproduktion ist das nicht relevant, für die physische Ausstellbarkeit jenseits von Monitor und Beamer allerdings doch.

Lines Fiction: Du hast ja quasi ein eigenes Genre in der Animation geprägt, das ist der Linolfilm. Was ist ein Linolfilm?

Jakob Kirchheim:Der erste Linolfilm entstand 1987 im letzten Jahr meines Malereistudiums an der HdK Berlin.
Ich experimentierte damals viel mit Super-8-Film, wollte meine gemalten Bilder mit Realaufnahmen und geschriebenen Zwischentiteln zu Kurzfilmen verbinden. Zur gleichen Zeit entdeckte ich das Medium Linolschnitt und entwickelte einige Techniken, die dann auch beim Linolfilm zum Einsatz kamen: das weitere Ausschneiden oder Auseinanderschneiden der Druckplatten, nachdem eine Reihe von Abzügen gedruckt waren, das mehrfache Überdrucken und die Modifizierung der Drucke durch Übermalung. Die einfache Idee dabei ist, dass es innerhalb der Serien Konstanten gibt und Bildteile, die sich verändern, ein Grundprinzip des Animationsfilms.

Die Kombination von Bild und Schrift spielte von Anfang an eine wichtige Rolle, wobei der Schrift ein Großteil der erzählerischen Dimension zukommt. Gleichzeitig war sie immer auch Schriftbild.
Eine Besonderheit in der Schriftgestaltung bezeichne ich als anagrammatische Methode: aus einem Satz, einer gegebenen Menge von Buchstaben werden durch Übermalung von Teilen weitere Wörter generiert, die sich allerdings oft von der „normalen“ Schreibweise in Zeilen unterscheiden, Unregelmäßigkeiten und Leerstellen enthalten, und somit vom Betrachter eine aktive Kombinatorik in der Wahrnehmung einfordern. Man kann die gewohnte Leserichtung in der Gestaltung natürlich nicht komplett ignorieren, bewegt sich sozusagen auf der Grenze zwischen Sinn und Unsinn, Lesbarkeit, gerade-noch-Lesbarkeit, bzw. Nicht-Lesbarkeit. Ohne den Zuschauern das Gefühl zu vermitteln etwas, möglicherweise auch Mehrdeutiges verstanden zu haben, würde das nicht funktionieren, wäre also reiner Formalismus.

Inhaltlich beschäftigt sich der erste Linolfilm mit gesellschaftlichen und politischen Themen, die Ende der Achtziger Jahre, kurz vor dem Fall der Mauer, in der Luft lagen: Der Schock von Tschernobyl saß tief, Berlin war noch eine Insel im Ostblock, Proteste gegen die damalige Volkszählung artikulierten sich massiv. Während Ronald Reagan vor dem Brandenburger Tor die Öffnung der Mauer forderte, wurden zehntausend Gegendemonstranten am Nollendorfplatz von der Polizei eingekesselt. Der Film behandelt das in Form einer Politikerrede mit Zwischenfällen, assoziativ, in Anspielungen und gleichzeitig in einer sehr prägnanten Bild-Schrift-Gestaltung.
Der 10-minütige Stummfilm wurde 1987 in einem Kreuzberger Projektraum mit einigen Filmdrucken uraufgeführt, erhielt 1988, inzwischen vertont, einen Preis auf dem No-Budget-Festival in Hamburg und erlebte unter dem neuen Titel Zurückbleiben – ein Linolfilm als 35-mm Remake eine weitere Uraufführung im Programm Panorama der Berlinale 1989.

Es folgten drei weitere Linolfilme, die bisherige formelle Gestaltungsprinzipien weiterentwickelten. Alfabet (Super-8, 4min, 1989), ist ein alphabetischer Bild- und Textfilm von A bis Z, bei dem die anagrammatische Methode konzeptionell schon beim Entwerfen und Schneiden der Druckplatten miteinbezogen wurde. Linolbüro (Super-8, 10min, 1990, präsentiert auf den Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1991) stellt eine fiktive EDV-basierte Produktionsstätte für Linolfilme vor, die drei verschiedene Kurzfilme ausliefert, u. a. eine Film im Film-Geschichte über Filmförderung und Dreharbeiten im Berliner Untergrund-Milieu. Kipp-Krise (Super-8, 13min, 1990, European Media Art Festival Osnabrück 1991) ist eine Montage aus Linoldrucken, Texten, Collagen und Aufnahmen von Berlin, die verschiedene soziale und urbane Themen, kurz nach dem Fall der Mauer, reflektiert.
(Siehe auch das Interview Deutsche Welle )

Außerdem entstand in dieser ersten Linolfilm-Phase der stumme Poetryfilm Geld oder Leben (Super-8, 3:10min, 1990) nach einem Gedicht des Ostberliner Dichters Stefan Döring. Das Gedicht wurde in Linoleum geschnitten und Wort für Wort auf einzelne S/W-Fotos aufgeklebt, die private und öffentliche Berliner Räume zeigen. (Siehe dazu auch das Interview auf www.poetryfilmkanal.de )

In einer zweiten Phase entstanden 1994 und 1995 drei weitere Super-8-Linolfilme. Afrikarten (3min, 1994) und Länder (3:10min, 1994) sind Filme, die sich auf Basis von Linoldrucken mit der Kartographie Afrikas beschäftigen, einmal mehr im Sinne animierter Pattern, das andere mal als animierte Kartographie. What‘s up? (2:50min, 1995) ist ein abstrakter Film, der handgemachte, geometrische Linoldruckserien rhythmisch ineinander verschachtelt. Gerade das Unregelmäßige der Materialoberflächen, die Abweichungen von strenger Geometrie tragen zur optischen Wirkung von Körperlichkeit bei.

Lines Fiction: Der Ton und Text ist dir sehr wichtig, und die Erzählstimme ist von deiner Partnerin Teresa Delgado, ihr arbeitet viel zusammen, seid ihr ein Team?

Jakob Kirchheim: Bleiben wir bei dem Beispiel Rutas simultáneas. Im Laufe der Produktion stießen wir auf ein Gedicht von Teresa Delgado, das die Strecke der Busfahrt in umgekehrter Richtung thematisiert, also von Valencia nach Madrid und ähnliche Motive aufgreift wie auf der Bildebene. Es bot sich an den Text, auf Spanisch gesprochen von Teresa, zu integrieren. Daher auch der Titel, der sich als simultane Reisen übersetzen ließe. Der Film enthält aber noch viel mehr schriftliche Textanteile, meist auf Spanisch, da dies die Sprache ist, die in die Zeichnungen und Drucke eingeflossen ist.
Ich entschied mich nach diversen Experimenten auf Untertitel jenseits des Gedichts zu verzichten.
Der Eingriff in die Bildebene war zu stark und ließ sich durch den Zugewinn an Information nicht rechtfertigen.

Eine eigenständige, kreative und flexible Arbeit mit der Tonebene wurde für mich erst in der digitalen Produktion möglich. Es begann mit
White Africa und hat sich seitdem weiterentwickelt, besonders Geschwindigkeitsveränderungen spielen eine große Rolle. In Rutas simultáneas wurde viel mit Insektengeräuschen gearbeitet.

In Zusammenarbeit mit Teresa sind etliche Filme entstanden, angefangen mit Die Prinzessin der zweiten Hand.
Im Schnee (DV, 2:10min, 2006) beinhaltet Super-8-Restmaterialien der Filminstallation 130 Punkte von 1995. Das Material weist Laufstreifen und geschmolzene Frames auf, die durch tagelange Projektion als Loop entstanden. Über das animierte Raster aus 130 Punkten wurde digital der schriftliche, in Linoleum geschnittene, Text des Gedichts gesetzt.

Terrorsounds (DV, 6min, 2010) ist ein Multimedia-Film, der Fotos, Verfremdungseffekte, analoge Filmmaterialien und animierte Schriften in einem Poetryfilm verbindet. Der bestehende Gedichttext wurde gemeinsam während der Produktion an die filmische Umsetzung angepasst. Der Film thematisiert drei Bombenattentate in Madrid und parallel dazu den Kunstherbst in Berlin. Auch hier ist der Filmton, wie der Titel bereits suggeriert, sehr wichtig.

Sternenstaub (DV, 3:10min, 2012) ist der zweite Film, der auf lines-fiction gezeigt wird. Die Kurzsynopsis lautet: „Wort- und Bildkonstellationen schweben im Film-Weltraum. Auf ihrer Reise durch Zeitlöcher werden sie zu Sternenstaub. Ein Science-Fiction Poetry-Film.“
In diesem Film habe ich wieder auf unveröffentlichte, analoge Filmmaterialien zurückgegriffen und diese digital bearbeitet. Die Initiative für Sternenstaub ging wie bei unseren beiden letzten Filmen
Veracruz ohne Schiff (HD, 5:53min, 2014) und Vertical vulcano (HD, 7:50min, 2018/2019) von Teresa aus. Die Frage, ob wir ein Team sind, lässt sich eindeutig bejahen.

www.jakob-kirchheim.de

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