Sandra Boeschenstein - Lines Fiction ★ Zeichnung & Animation ★

Sandra Boeschenstein

Lines Fiction: Deine Kunst ist ein Ausdruck von Verwandlungen, von metamorphotischen Prozessen, denen du in unterschiedlichen Medien nachgehst, in Zeichnungen, Objektinstallationen und Filmen.

Sandra Boeschenstein: Ja, das Driften von Sinn und Bedeutung steht im Zentrum. Dafür eignet sich sich die Zeichnung in ihrer medialen Schlichtheit besonders gut. Linien sind Ballastlos und wandlungsfähig, bruchlose Systemwechsel sind ihre Stärke. Aus denselben Metern Strich kann ich Ferngläser und Blickverläufe, einen sprechenden Mund oder ein Wort formen. Zeichnen steht für mich auch für Verfügbarkeit ohne Arroganz und Größe ohne Monumentalität, da die jeweilige Ausdehnung, beispielsweise einer gezeichneten Erdkugel, erst im Betrachter Dimension bekommt und als Linie ein Angebot für die Vorstellung ist.
Die Größe der Frage und das jeweilige Arbeitstemperament entscheiden über die Wahl von Format und Technik. Mit kleineren Formaten kann ich in einer Thematik, die sich aufheizt, spazieren und von Blatt zu Blatt in anderer Richtung und Distanz auf die Ahnung zugehen. Wenn ganze Vorstellungskaskaden kommen, nehme ich das Arbeitsheft und lasse die Bildfelder bei zunehmender Assoziationsdichte kleiner werden. Auf große Formate wechsle ich bei der Vermutung, dass bei mehr Platz auch mehr sichtbar wird und sich im langatmigen Arbeiten ein atmosphärischer Zugang eröffnet. Oder ich befasse mich ein Jahr mit einer grossen Frage, beispielsweise dem Verhältnis vom Wirklichen zum Möglichen, und es entsteht ein geschlossener Zyklus aus zahlreichen Blättern. Der installative Aspekt tritt dann auf, wenn es um eine verbindliche Reaktion auf einen Ort geht oder ich den Realraum aufrufen möchte und zeichnerisch direkt auf Wände arbeite sowie mit installativen Elementen in den Raum vorstosse. Ein Beispiel dazu ist die (hier abgebildete) Arbeit „vor vier Minuten“.
Meine wesentliche Aufmerksamkeit gilt den verworrenen Übergängen zwischen Wahrnehmen und Denken und ich gehe dabei gern von einfachen medialen Grundlagen aus, um die Bewegungen von und mit vermessen großen Fragen unmittelbar beobachten zu können.

Lines Fiction: Dein Filmclip fällt ziemlich aus dem Rahmen auf Lines Fiction. Du filmst einen Vertreter der Familie der Nematomorpha, einen Fadenwurm, der sich dreht und wendet. Auf dieser Website zeigen wir den Film in Kombination mit ausgesuchten Zeichnungen, die den Wurm mit Linien und Wasserschlauch in deinen Bildern verknüpfen. Reflektiert dies eine Hinwendung zum Surrealismus?

Sandra Boeschenstein: In meinen Augen reflektiert diese Zusammenstellung von Arbeiten mein zentrales Interesse an der Realitätskonstitution. Gerade weil ich es mit dieser Befragung und Beobachtung des Realitätssbegriffs so ernst meine, bin ich eine Skeptikerin gegenüber dem zeitgenössischen Umgang mit dem Begriff des Surrealen. In einer medial heterogenen Wirklichkeitsbeschaffenheit gehören Diskontinuität und Verschiebungen zur Struktur unserer täglichen Erfahrung. Ich meine also, dass die Differenz zwischen real und surreal infolge Abwesenheit einer stabilen Referenzwirklichkeit hinfällig geworden ist. Das Verhältnis zwischen Möglich und Wirklich liegt mir näher, da dieses Paar auch leichter mit dem Begriff der Verantwortung in Verbindung gebracht werden kann, was mir ein Anliegen ist. Die stets frische und dynamische Zusammensetzung der Realität aus unterschiedlichsten Quellen scheint mir heute eine der zentralen Herausforderungen zu sein. Auch die Referenzlose Linie ist an keine bestimmte Wirklichkeit gebunden, sondern wählt diese stets neu. Vergangenes und Zukünftiges, Mögliches und Wirkliches lassen sich auf einem Blatt versammeln. Ich setze gezielt Dinge in Beziehung und zeichne, um zu sehen. Dies nicht im Hinblick auf einen ruhenden Sinn, sondern mit Bereitschaft für einen Sinndrall.
Auch in der hier getroffenen Auswahl für Lines Fiction ist das Interesse an Verschiebungen und die Suche nach dem Verhältnis von „stehen für“ oder „sein“ prägend: eine gezeichnete Zeichnerin, welche die Linie für den zeichnerischen Akt aufheizt; die Linie als wasserführender Schlauch, der sich um die „Literatur“ windet; die Deadlines, welche reanimiert sein wollen und von ihrem Einsatz als Reiseroute oder Aktzeichnung träumen. Schliesslich behaupte ich im Realfilm, dass etwas Linie sei, was eigentlich Tier ist, während normalerweise, in gegenläufigem Vorgehen, charakteristisch geformte Linien Tiere oder anderes repräsentieren.
Zu „besuchte Linie auf Granit“: Die Verbindung der Einfachheit in der Grundanlage mit einer gleichzeitigen Unsicherheit zu Skalierung und Wesen dieser weißen Linie berührt meine Faszination. Ich stieß auf den Fadenwurm in den Alpen, als ich die Wasserfassung der Hütte nach einem Sturm wieder instand stellen wollte. Ich wünschte mir dieses an der Quelle gefundene Tier als eine besuchte Linie, suchte potenzielle Besucher und fand in der Nähe das Nest von Feuerwanzen in einem getrockneten Kastanienblatt, welches ich also knapp ausserhalb des Bildfeldes hinlegte. Granitplatte, Fadenwurm, Käfernest und Fliege haben ihr Leben in einem Umkreis von hundert Metern geführt. Mein Zutun war es, sie für eine Stunde in unmittelbare Nachbarschaft zu bringen, meine Kamera zu richten und in den oberen Teil der Linse zu hauchen, um die atmosphärische Tiefe der Aufnahme zu erhöhen. Schliesslich der Akt, diese Aufnahme als Linienbefragung im Umfeld von Zeichnungen zu zeigen. Gerne behaupte ich im Titel, dass es sich um eine Linie handelt: „besuchte Linie auf Granit“ neben „gestempelte Ölfarbe auf Papier“, das eine ist ein Titel, das andere eine Angabe zur Technik eines benachbarten Werkes. Es sind solche Twists, die mich freuen, – wenn ein stiller Durchzug dem Selbstverständlichen eine Überraschung entlockt.

Lines Fiction: „No animals were harmed in the making of this movie“ gilt auch hier?

Sandra Boeschenstein: ja, sicher! Den Fadenwurm habe ich auf einer feuchten Granitplatte gefilmt und ihn nach einer Stunde wieder auf seine feuchte Granitplatte neben der Quelle zurückgebracht und auch das Nest der Feuerwanzen im Kastanienblatt trug ich zurück. Die Fliege, welche aus freien Stücken ins Set flog, kam immer wieder, da ich die Granitplatte etwas zuckrig gemacht hatte…


Besuchte Linie auf Granit, 2014
Visited Line on Granite, 2014
2:37 min., no Sound

sandra boeschenstein

Ob Duchlauferhitzer oder Heizschlange ist eine Literarische Frage, 2013
wether continous-flow water heater or heating coil is a literary question, 2013
ink and stamped oil paint on paper

 

sandra boeschenstein

Sie erhitzt die Linie für einen zeichnerischen Akt, 2013
she heats up the line for an act of drawing, 2013
ink and stamped oil paint on paper

 

sandra boeschenstein

Vor vier Minuten, 2014
four minutes ago, 2014
pencil, stamped oil paint, holes, and spools

 

sandra boeschenstein

Lauter Deadlines, die reanimiert sein wollen, und vom Einsatz als Reiseroute oder Aktzeichnung träumen, 2014
all the deadlines that want to be reanimated and that dream of being developed as travel route or nude drawing, 2014
ink and stamped oil paint on paper

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